Kein Homeoffice, keine Kekse

isotopp image Kristian Köhntopp -
September 12, 2023
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Heise schreibt: Kommentar: Massenexodus bei Grindr – von den (Un-)Schönheiten des Homeoffice Ein Kommentar, der sich am Massenexodus bei Grindr abarbeitet, aber nicht weiß, was er will.

Bei Grindr bildet sich eine Gewerkschaft, und viele Mitarbeiter werden Mitglied. Aus Rache führt die Firma Hybrid mit mindestens 2 Tagen pro Woche Anwesenheit ein. Daraufhin kündigen mehr als 50 % der Mitarbeiter.

Der Artikel sieht das nicht als collective action der Mitarbeiter, sondern als eine Folge von Individualentscheidungen. Er sieht auch irgendwie Vorteile für die Firma (“Geringere Kosten” und magische “höhere Produktivität”), und versucht dann eine Art Brücke zu schlagen (“Firmen sollten auf Mitarbeiter hören.”).

Das ist in Summe aussagelos und von der wirtschaftlichen Analyse her Quatsch.

Auftragstaktik

In den drei Covid-Jahren haben sich in allen Firmen sehr stabile und produktive Remote-First Strukturen ausgebildet. Sehr viele Mitarbeiter haben sehr schnell gelernt, dass zweimal eine Stunde Commute pro Tag mehr Belastung waren, als sie bewusst bemerkt haben. Sie waren sehr froh, diese Lebenszeit zurückzubekommen.

Zudem haben sie gemerkt, daß Management by Objectives – nahezu die einzige Methode, die Remote First funktioniert – viel sinnvoller ist als fast alles andere.

Wer mehr wissen will: Florian Haas hat darüber ja auch schon unter Referenz auf die Auftragstaktik nachgedacht und in The Art of Action beschäftigt sich quasi ein ganzes Buch mit dem Thema “Auftragstaktik in der Unternehmensführung umsetzen” und Clausewitz “Vom Kriege” in der Wirtschaft.

Wenn Unternehmen nun – aus welchem Grund auch immer – versuchen, das zurückzudrehen, dann erzeugen sie damit eine große Unzufriedenheit bei ihren Mitarbeitern und drehen die Fluktuation hoch bis zum Anschlag. Sie machen dabei keinen Gewinn, denn sie verlieren genau die Mitarbeiter, die sie behalten müssen und wollen. Unternehmen bluten vom Kopfe her.

Arbeitsmarkt

Und sie schneiden sich von einem Arbeitsmarkt ab.

In dem wegweisenden Essay The Trimodal Nature of Software Engineering Salaries in the Netherlands and Europe beschreibt Gergely Orosz die Struktur des Arbeitsmarktes bei Wissensarbeitern.

Er tut das am Beispiel von Amsterdam, aber meiner Erfahrung nach ist das weltweit so, mit unterschiedlichen Limits bei den lokalen Märkten. Unternehmen müssen wissen, aus welchem Pool sie Personen ansprechen und einstellen wollen, und sie müssen wissen, wie man mit der entsprechenden Gruppe Leute arbeitet. Der Vorteil von Remote First Unternehmen ist, daß sie aus dem globalen Markt einstellen können, aber oft zu Preisen aus einem nationalen Markt.

Ein frühes Beispiel dafür war MySQL AB, die mit 500 Leuten in 26 Ländern ein extremes Beispiel für eine verteilte Firma waren, und die weltweit eingestellt hat, aber keinen Umzug gefordert hat.

Stattdessen hat man bewusst Strukturen geschaffen, in denen ein verteiltes Team Gemeinschaft bildet, sich 4x im Jahr getroffen (in Ländern, die unproblematisch mit Visa umgingen), und man hat diese Treffen systematisch vorbereitet, damit sie effektiv waren. Und ja, jede Menge MbO/Auftragstaktik.

Eine moderne Beschreibung solcher Methoden findet man in Effective Remote Work von James Stanier.

Die Folgen von RTO

In den drei Covid-Jahren sind in vielen Firmen ebenfalls solche Strukturen entstanden, aber oft zufällig, partiell, nicht gesteuert und unverstanden.

Wenn ein solcher Laden jetzt aus welchem Grund auch immer “Return to Office” ausruft, dann passieren mehrere Dinge:

  1. Die Firma schneidet sich vom weitweiten Staffing Pool (zu nationalen Preisen) ab, Hiring wird schwierig. Denn neue Mitarbeitys müssen umziehen und dem stehen Verpflichtungen vor Ort, Visa und Arbeitserlaubnisse und viele andere Dinge im Weg.
  2. Die Firma erzeugt ohne Not die Situation oben für alle existierenden Mitarbeiter, die in den drei Covid-Jahren dazu gekommen sind, aber nicht umgezogen sind. Alle die werden gehen.
  3. Die Firma bringt den Commute zurück zu Menschen, die begriffen haben, dass der Commute notlose Verschlechterung der Lebensqualität ist. Auch hier Kündigungswelle.

Welche Leute werden gehen?

Zuerst immer die, die Optionen haben. Also die hoch qualifizierten, deren Recruiter-Spam in der Inbox am größten ist. Der Pull-Faktor ist ja schon da, den Push und den Anlass hat die Firma eben geliefert.

Es sind also gerade die Leute, bei denen der Arbeitgeber einen Anlass hat, Retention zu fahren, die der Arbeitgeber zuerst verliert. Das ist immer und für jede Firma ein sehr großer Nettoverlust, und noch dazu ein schlecht gesteuerter.

Wenige Läden können einen Verlust von 50 % der Belegschaft verkraften, ohne dass es zu einem massiven Verlust an Qualität, Produktivität, organisatorischem Wissen und Prozeßreife kommt.

Neben dem Verlust an Know-How und nicht verschriftlichtem Wissen, der erhöhten Arbeitslast für die verbleibenden Mitarbeiter kommt noch der Druck auf alle für Interviews und Training neuer Kollegen dazu. Das erzeugt eine Delle in Qualität und Produktivität von 1 bis 2 Jahren, Stagnation oder gar Regress. Es gibt kein Wertmodell für eine Firma, in der so etwas positive Auswirkungen hat.

Auch Entlassungen fördern ungesteuerte Verluste

Etwas Ähnliches passiert bei Entlassungen: Neben den Leuten, die man entläßt (gesteuert und nach Ansicht der Firma am unteren Ende) wird man gewiss noch 2x mehr Leute verlieren, aber am oberen Ende. Für diese Menschen ist der zweite, ungeschriebene Vertrag gebrochen worden, und sie nehmen die resultierende Unsicherheit als Anstoß, Pull-Faktoren nachzugeben.

In jedem Fall bluten Firmen bei solchen Änderungen. Sogar dann, wenn sich nicht aus billiger Rache erfolgen, sondern gesteuert und mit Unterstützung des Managements sanft durchgeführt werden, kommt es leicht mit großen zweistelligen prozentualen Verlusten und jahrelangen Folgen.

Firmen lernen gerade, wie wichtig Personen als Individuen sind. Viele Organisationen sind mit dieser, der kapitalistischer Ideologie widersprechenden Erfahrung sehr unzufrieden und tief in Denial.

Companies forcing their employees back into the office will lose talent and keep wage serfs. – Volker Weber (@vowe@social.heise.de )

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