Was mein Kind in der Schule so macht

isotopp image Kristian Köhntopp -
December 30, 2022
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Die Niederlande sind ja ein Land, das mit WhatsApp funktioniert. “Ik stuur je snel een appie” und wenn WhatsApp mal down ist, wird das Land vorübergehend geschlossen.

Damit kann man einverstanden sein oder nicht, aber Metcalfe’s Law ist mächtig und wenn man das Land nicht in Hard Mode spielen will, dann legt man sich besser ein WhatsApp zu.

An ungefähr jedem zweiten Wohngebiet findet man ein solches Schild an der Einfahrtstraße. Es gehört zu WBAP (WhatsApp BuurtPreventie), einem System von mehr als 10.000 Nachbarschafts-Chatgruppen.

Auch die Schulen haben viele Jahre lang mit den Eltern pro Klasse eine WhatsApp-Gruppe gefahren. Das ist dann vor vier oder fünf Jahren plötzlich aus Datenschutzgründen untersagt worden. Dabei ist – datenschutztypisch – keine Alternative genannt worden.

Man hat also hastig eine Chatfunktion in die Schul-App integriert, also in unserem Fall für die Grundschule in Parro . Da hatte man dann eine 50:50 Chance, daß die betreffende Lehrkraft das auch benutzt und in Time gesehen hat.

Die Schüler hatten alle kein Problem. Die hatten alle, sobald sie schreiben konnten, ein eigenes Handy. Entweder ohne SIM oder mit einer Prepaid-Karte drin. Und natürlich haben sie sich selbst pro Klasse WhatsApp-Gruppen gebaut.

Wenn man also zuverlässig kommunizieren wollte, dann mußte man über die WhatsApp-Gruppe der Kinder herausfinden, welche WhatsApp-Gruppe die Eltern der Klasse organisiert hatten, und dann ging es weiter. Nur halt ohne Lehrer.

Das ist hoffentlich für niemanden überraschend: Wenn jemand etwas aus welchem Grund auch immer verbietet, dann geht der Bedarf ja nicht weg, der zum Betrieb der originalen Lösung geführt hat. Wenn man also den Datenschutz, Security oder sonst irgendwelche Interessen vertritt und dabei nicht konstruktiv arbeitet, also rechtskonforme, aber vor allen Dingen funktionierende und bedarfsgerechte Lösungen als Ersatz anbietet, dann passiert… genau gar nix.

Außer einem weiteren gloriosen Sieg für den Datenschutz, mit dem wir Europäer den bösen amerikanischen Datenkraken-Megakonzernen mal so richtig gezeigt habe, was eine Harke ist. Feuerwerk!

Schul-App

Ein wenig Hintergrund: Verzuiling (“Versäulung”) ist eine spezifische Entwicklung von innerstaatlichen Parallelgesellschaften, die typisch für die niederländische Gesellschaft war. So gab es im Schulbereich katholische, protestantische und nicht-konfessionelle Schulen und in einigen Bereichen auch gewerkschaftlich geprägte Schulzüge.

Selbst hier in unserem 5000-Leute-Dorf gab es bis vor 4 Jahren noch eine konfessionelle und eine nicht-konfessionelle Grundschule, die dann erst aus finanziellen Gründen und wegen der sinkenden Schülerzahlen zusammen gegangen sind. Das war weitgehend problemlos, da auch an der (größeren) konfessionellen Schule außer dem Religionsunterricht und gelegentlichen Kirchenbesuchen am Reformationstag kaum etwas von der konfessionellen Ausrichtung zu spüren war.

Aber die Schulen, mit denen ich Erfahrung habe, sind meistens Mitglied in einer Gruppe, die eine gemeinsame Schul- und Technikorganisation haben. Für unsere Grundschule war das zum Beispiel Stichting Jong Leren , und die jl-Schulen verwenden alle Parnassys als Schul-Anwendung und Parro als Schulapp.

Bei den VWO, die ich im Detail angesehen habe, war das dann alles auf der Basis von Magister . Alle Schulen, mit denen ich zu tun hatte, nahmen dann hinten dran im Betrieb Google Edu und weitere hinten dran gestrickte Anwendungen von Schulbuch- und Contentverlagen.

Die sind dann jeweils von der Trägerorganisation in Zusammenarbeit mit den Verlagen entwickelt worden, und passen zu den Lehrbüchern und Übungen.

In der Regel arbeiten die verschiedenen Träger zusammen, und so gibt es da nicht sonderlich tiefgreifende Unterschiede zwischen den Trägern. Das will man schon aus Kostengründen nicht erzwingen, wozu auch?

Wenn man als Schule Arbeit vom Hals haben will, dann sucht man sich also eine zur eigenen Säule und zur eigenen Ideologie passende Träger-Organisation aus und tritt da ein, damit man Zugriff auf diese Ressourcen hat. Am Ende landet man dann bei Magister und Google Edu, weil das irgendwie alle machen und das auch total sinnvoll ist.

Magister

Um einmal einen Eindruck zu vermitteln, wie so etwas aussehen kann: Magister bietet in der Elternansicht eine Reihe von nützlichen Funktionen an, die im Grunde ein “Klassenbuch” komplett ersetzen.

Die Anwendung kann mehrere Kinder verwalten.

Ich sehe den Stundenplan, Hausaufgabe, Fehlzeiten, Noten und diverse Mails und Mitteilungen der Schulleitung, sowie To-do-Listen und zusätzliche Studienangebote der Schule.

Screenshot des Hauptmenüs von Magister mit den Punkten Stundenplan, Hausaufgaben, Abwesenheit, Noten, Mail, Mitteilungen, Studienwegweiser, Todo und Stammdatenverwaltung.

Ich kann im Stundenplan sehen, ob Hausaufgaben aufgegeben sind. Ich kann auch erkennen, ob das Kind sie abgehakt hat (dann wäre der Böppel grün).

In der Hausaufgabenansicht bekomme ich das kompakter, als Liste.

Fehlzeiten, entschuldigt und unentschuldigt, bekomme ich auch mit.

Stundenplan für den 12. Januar 2023, mit Unterrichtsbeginn um 9:35. Es ist eine Doppelstunde Geschichte, dann Kunst, dann zwei Doppelstunden O&O. Zu Geschichte ist eine Hausaufgabe vorhanden, die noch nicht abgehakt ist.

In der Notenansicht sind die letzten Ergebnisse, das Datum des neusten Ergebnisses und die Note selbst (hier zensiert) jeweils sichtbar.

Die Notenansicht. Sie zeigt jeweils das Datum des letzten Ergebnisses und (hier zensiert) das letzte Ergebnis, sowie die Anzahl der vorliegenden Ergebnisse. Man kann dann auf die einzelnen Leistungsnachweise zurückblättern.

Auf diese Weise ist zwischen allen Beteiligten jeweils die Faktenlage aktuell und transparent dokumentiert und es geht nichts verloren. Alles in allem ist das recht effektiv.

Wir hatten vor den Weihnachtsferien das erste Elterngespräch auf der neuen Schule. Da von den Sachfragen her alles klar war, haben wir mit dem Kind und zwei Lehrkräften zusammen gesessen und dann mal darüber geredet, wie das so ist mit Niederländisch als Zweitsprache an der VWO, und wo noch was zu machen ist.

Mit einem deutschen Elternabend komplett nicht vergleichbar.

Das ist bemerkenswert, weil die Lehrerausbildung in Deutschland sehr viel besser ist. Hierzulande ist Lehrer ein Ausbildungsberuf, und je nach Hintergrund haben die betreffenden Personen zwischen sechs Monaten und drei Jahren Ausbildung erhalten. Der Rest muss per Weiterbildung und durch Assimilation “on the Job” passieren. Man kann am Alter der Lehrkraft schon grob abschätzen, wie umfassend ihr Repertoire an Methodik, Konfliktlösung und Kommunikationstraining ist. Und wie bei Handwerkern auch ist das Spektrum an Leistungsunterschieden sehr viel breiter, als man das von Deutschland gewohnt ist, weil die Ausbildung selbst sehr viel individueller und variabler ist.

Schwächen, aber nicht bei der Technik

Alles in allem kann man sowohl für die Grundschule als auch die VWO sagen, daß die Technik funktioniert.

Die Schulgebäude sind modern, sauber und gut renoviert. Die Ausstattung mit der Technik ist natürlicht nicht optimal, aber weitgehend adäquat, und die Räume sind von der Ausstattung her in der Lage, die Technik zu tragen. Das gilt insbesondere auch für Netz in die Schule (Glasfaser) und Wifi (aktiv gemanaged und auf die Anzahl der Clients abgestimmt, mit einer Abdeckungs- und Lastanalyse).

Verwaltung und Betrieb sind an ICT-Firmen ausgelagert, die mit den Verwaltungsanwendungen und Google Edu umzugehen wissen. Erwartungsgemäß kommt es dabei zu Beginn des Schuljahres zu einzelnen Rucklern und Rechteschwankungen, die jedoch teilweise erstaunlich lange in der Bearbeitung brauchen. Am Ende hat es 14 Tage gedauert, bis alle Schüler in ihren Klassenverbänden mit den korrekten Stammdaten und Rechten registriert waren.

Mithalten ist Arbeit

Die Schule selbst steht zum Teil vor großen pädagogischen Problemen, weil die Leistungsstände der Kinder beim Umgang mit Rechnern und mit der speziellen Umgebung extrem unterschiedlich sind. Sie darf nichts voraussetzen, aber die meisten Kinder kennen sich mit der Technik gut genug aus, um sofort loszuarbeiten und einzelne Kinder haben einen Leistungsstand, der dem der Lehrkräfte vergleichbar ist. Dies zu vereinheitlichen und dabei weder oben noch unten Leute zu verlieren ist nahezu unmöglich, und auch nicht gut gelöst.

Die oft gehörten Bedenken “große Konzerne drängen auf den Bildungsmarkt, und versuchen Abhängigkeiten zu erzeugen, Curricula zu pushen und Kunden für die Zukunft zu binden oder Daten zu monetarisieren” lassen sich durch Beobachtung von meiner Seite nicht bestätigen.

Es bestehen Probleme, aber die sind anderer Art. In “ICT Basisvaardigheden” wird teilweise Unterrichtsmaterial verwendet, das Spezifika von Windows-Programmen voraussetzt und abfragt. Aber die Schule setzt Chromebooks ein und wir haben Apple daheim. Das Kind – im Grunde sehr sicher im Umgang mit Rechnern – kommt aufgelöst angerannt und fragt sich, wie es die Aufgabe lösen soll. “Ja”, sagt die Schule, “wir können das Unterrichtsmaterial nicht schnell genug anpassen.”

Arbeiten in lokalen und verteilten Gruppen

Auch in der Gestaltung des Unterrichts stößt die Schule teilweise an ihre Grenzen, hier dann aber wegen Ausbildungs- und Umsetzungsschwächen. Diese spezielle Schule ist sehr stolz auf das Fach O&O (“Onderzoek & Ontwerpen”, “Untersuchen und Entwerfen”). Die Grundidee ist fantastisch, weil das eine schulbegleitende, fächerübergreifende Ingenieursanwendung ist: Die Kinder sollen in Kleingruppen, gemeinsam, ein konkretes real-weltliches Problem lösen, also zum Beispiel ein Löwengehege im Artis-Zoo von Amsterdam entwerfen oder eine Upcycling-Lösung für ein Produkt einer Firma entwerfen.

Die Umsetzung scheitert auf mehr als einer Ebene, und das müßte sie im Grunde nicht. Wir reden hier nach deutscher Skala von Kindern 7. Klasse Gymnasium, die in einem neu zusammengewürfelten Klassenverband die neue Schule beginnen. Sie werden zufällig und für jedes Projekt neu in zufällige, nicht selbstbestimmte 4er-Gruppen geworfen, und natürlich geht das Team danach immer wieder neu durch die Forming, Storming, Norming and Performing-Phasen. Das wäre leicht vermeidbar, wenn man dies verstünde, die Teams stabil ließe und dabei dann behutsam Ausgleichs-Umbesetzungen vornähme, wo das notwendig ist.

Die einzelnen Aufgaben werden teilweise mit recht wenig Begleitung und gewiss ohne Meta-Ziele in die Teams geworfen. Es wäre total sinnvoll, die erste Aufgabe als Wegwerf-Projekt zu inszenieren und dabei nicht nur den Gebrauch der Google-Office-Werkzeuge zu lehren, sondern auch kollaboratives Arbeiten, Strukturierung der Arbeitsumgebung, und dabei den Teams Zeit und Raum zu geben, gemeinsame Normen und Methoden zu finden. Auch diese Chance wurde vergeben.

Ebenso hätte man bei verschiedenen dieser Projekte die Konzepte von Stakeholdern, multilateralen Zielen, Design Constraints und andere Dinge einführen können. Artis ist zum Beispiel ein Zoo, der auf enorm kleinem Raum auskommen muß, weil er mitten in einer dicht gepackten Innenstadt liegt. Die Bedürfnisse von Tieren, Besuchern, Wärtern und die finanziellen Constraints der Betreiber unter einen Hut zu bekommen ist so gut wie unmöglich, aber selbst mit einer vereinfachten Aufgabenstellung hätte man zumindest diese Blickwinkel, harte und weiche Einschränkungen und dergleichen mehr ansprechen können und das Projekt so pädagogisch sehr viel wertvoller machen können.

Ich bin nicht nahe genug dran, um beurteilen zu können, warum das so ist, aber ich habe den laienhaften Eindruck, daß es da an strukturierter Aufbereitung der Ziele und der pädagogischen Umsetzung mangelt. Dort wären viele “leichte” Gewinne und einfache Verbesserungen möglich.

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