Die Erzwingung der Privatsphäre

isotopp image Kristian Köhntopp -
August 17, 2012
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In habe ich erklärt, wo die persönlichen Vorteile der Offenlegung von Informationen über eigene Interessen oder Eigenschaften liegen können, und es in den Kommentaren auch mit einigen ganz konkreten, selbst erfahrenen Beispielen belegt: Gezielte Veröffentlichung von Interessen ermöglicht uns, einander zu finden und uns horizontal, unter Gleichen, zu organisieren.

Sehr viel drastischer schlägt Charles Stross in The Internet is for porn in dieselbe Kerbe. Bei ihm geht es um sexuelle Vorlieben und wie diese durch das Internet gemainstreamed werden:

[…] stuff that, in 1970, you would have had to search out from specialist retail distributors […]is today ubiquitous and available at the click of a mouse button. But it’s also a side-effect of the web making it easy to construct social networks among people with minority interests; suddenly all sorts of stuff that was hidden back when it was just one person per 10,000 population town emerges as a 30,000-strong continental community. The 0.01% are no longer hidden, can no longer be marginalized. Never mind the 1% or the LGBT 10%.

In Deutsch: “Zeugs, für das man 1970 zu einem Spezialgeschäft hätte gehen müssen […], ist heute mit einem Mausklick leicht erhältlich. Aber das ist auch sein Nebeneffekt des Web, welches es leicht macht, sich in sozialen Netzwerken zu organisieren und zu finden. All das Zeugs, das damals versteckt war, weil es nur eine Person in einer 10.000 Einwohner-Stadt interessiert hat, ist nun Thema einer 30.000 Personen starken kontinentalen Gemeinschaft. Die 0.01% können nicht mehr marginalisiert werden, die 1% oder die LBGT 10% noch viel weniger.”

Die Struktur, um die es hier geht, und die Leute ermächtigt, ist die horizontale Kommunikation und der Zusammenschluß von geographisch verteilten, interessengleichen Personen, und die Ermöglichung der Gruppenbildung. Gruppeninteressen, die sich auf diese Weise bilden können, werden Machtfaktoren, und sind plötzlich Mitspieler in der öffentlichen Diskussion und Wertefindung - natürlich kompliziert sich so das Tagesgeschäft der Politik, und natürlich müssen die etablierten Spieler diese neuen Entwicklungen zur Kenntnis nehmen, wollen dies aber wenn möglich nicht.

Die Effekte sind dennoch profund, und führen zu unerwarteten Entwicklungen. Das republikanische Sprachrohr Fox News und viele Mitglieder der republikanischen Partei bewegen sich langsam von ihren Positionen gegen gleichgeschlechtliche Partnerschaften weg: The Gay Rights Revolution arrives at Fox News :

Fractures in conservative opposition to gay rights and even same-sex marriage have now widened to include the core of the right’s message machine, the Fox News Channel, where a cadre of younger voices have begun to defend same-sex relationships and even advocate openly for same-sex marriage. […] But like the Republican Party, whose leaders have begun to step away from anti-gay positions that are deeply unpopular with younger voters, Fox appears to be feeling pressure both from its younger staff and key audience segments to reflect what polls suggest is a rapidly shifting consensus.

Es ist genau wie Charles Stross schreibt: die LBGT 10% können auch und gerade von den Republikanern nicht mehr marginalisiert werden, weil sie jetzt als eine Gruppe auftreten können und seit dem Internet auch massiv Sichtbarkeit gewonnen haben. In Charles Stross Termen ist aus etwas, das vor 40 Jahren Material für eine Erpressung geliefert hätte, weil es privat war und privat bleiben mußte, eine mächtige, normale und anerkannte politische Bewegung und eine anerkannte gesellschaftliche Normalität geworden.

Hätte man so etwas im Privaten gelassen, hätte sich die Gesellschaft nicht verändern können.

In Post-Privacy: Prima leben ohne Privatsphäre

spricht Christian Heller einen ähnlichen Aspekt an:

Ein bürgerliches Unbehagen des 19. Jahrhunderts galt den Proletariermassen, den Horden der Unterschicht. Mit sozialen Wohnprojekten sollte nicht nur die Verwahrlosung der Elenden unterbunden werden, sondern vor allem auch ihre Vermischung, ihre Zusammenballung. Der einzelne Proletarier war für sich kein Problem; aber in der Menge, in der Verbrüderung, wurde er gefährlich, musste er kontrolliert werden. […]

Diese Strategie zeigte sich auch in Wohnprojekten. In Frankreich verpflanzten großzügige Unternehmer ihre Arbeiterfamilien in Siedlungen kleiner Einfamilienhäuser mit getrennten Zimmern, einem Garten und Gartenzaun. Kein übles Angebot, denn natürlich waren diese Behausungen um ein Vielfaches wohnlicher als jede Mietskaserne. […]

Der Gartenzaun war bedeutsam: Er sollte eine nicht nur architektonische, sondern auch geistige Grenze gegenüber den Nachbarn ziehen. Der Arbeiter sollte lernen, sich als getrennt von seinem Nebenmann zu betrachten, statt als Teil derselben Schicksalsgemeinschaft im Klassenkampf. Der Zaun sollte den Mob auftrennen und den Horizont der Arbeiter auf ihre Privatsphäre verengen.

Das Konstrukt, das hier angestrebt wird, ist genau das, das solche Normalisierungen und Neubildungen von gesellschaftlichen Interessengruppen verhindern soll: Der Einzelne soll horizontal durch das Konstrukt der Privatheit isoliert werden, aber natürlich vertikal durch die Obrigkeit jederzeit leicht adressierbar und kontrollierbar sein.

Diese Denkweise erklärt auch das Sommerlochthema des Sommers 2012: Die “Facebook”-Parties. Spontane und unregulierte Zusammenkünfte von wildfremden Menschen zum Feiern sind der Party-Arm derselben Struktur, die als “Anonymous” spontan organisierte und unregulierte politische Gewalt ausübt: tatsächlich gibt es Anonymous-Aktionen, die Merkmale von politischem Protest und Facebook-Party zur selben Zeit aufweisen.

Das erklärt auch die Stärke der Abwehrreaktion aller etablierten und konserativen Interessengruppen gegen Facebook-Parties: den bestehenden Machtgruppen und Organisationen ist die Isomorphie von Facebook-Party und Anonymous-Aktion sehr wohl bewußt, wenn auch nicht unbedingt immer auf einer verbalisierbaren Ebene. Der Kampf gegen Facebook-Parties ist auch der Kampf darum, neue und sich selbst noch nicht bewußte gesellschaftliche Interessengruppen in Form von vereinzelten Personen hinter ihren Gartenzäunen zu halten - es geht darum, die Privatsphäre dieser Leute untereinander zu erzwingen, um keine Konkurrenz zu den eigenen Strukturen entstehen zu lassen.

Am Ende geht es darum, die Evolution von der Einzelperson über Anonymous zu einer Adhocracy und danach zur Piratenpartei (oder anderen neuen politischen Strukturen) zu erschweren oder gar zu verhindern.

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