Staatskirchenrecht

Warum zahlen wir in Deutschland Kirchensteuer und keinen Zehnt an die jeweilige Kirche direkt? Wieso ist an einigen Tagen Tanzverbot? Wieso verbietet das Bundesverfassungsgericht dem Land Berlin die Öffnung von Einkaufszentren an Sonntagen, hat aber mit Busfahrern, die Sonntags arbeiten müssen keine Probleme? Wieso meinen deutsche Bischöfe selbst entscheiden zu können, welche Fälle von Kindsmißbrauch den Staat angehen und welche die Kirche intern klärt?
Im preisgekrönten USA erklärt stellt Scot heute die amerikanische Sicht auf die Dinge dar. Will man an die Quellen, schaut man sich Artikel 140 unseres Grundgesetzes an. Der ist recht kompliziert, denn er lautet im Volltext:
Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes.
Man hat also im Grundgesetz Teile der Weimarer Verfassung übernommen, zusammen mit dem Deutungskontext der damaligen Zeit - eine Verlegenheitslösung, die deswegen existiert, weil man sich in der vorhandenen Zeit nicht auf einen Kompromiß einigen konnte und es wichtiger war, überhaupt erst einmal eine Verfassung zu haben. Daher mutet das alles ein wenig wunderlich an.
Mehr Kontext bekommt man in Staatskirchenrecht , der erläutert:
Das deutsche Staatskirchenrecht beruht, anders als etwa das bürgerliche Recht, nicht auf einem wissenschaftlich erarbeiteten, umfassenden Regelungskonzept. Es hat sich vielmehr in jahrhundertelanger Entwicklung gebildet und ist wie kaum eine andere Rechtsmaterie durch historische Ereignisse beeinflusst.
und geht dann ungefähr bis Canossa , den Westfälischen Frieden , das Landesherrliche Kirchenregiment und den Kulturkampf zurück.
Die Trennung von Kirche und Staat ist in Deutschland jedenfalls unvollkommen (‘hinkend’ – Stutz, 1926) und wird von vielen Menschen als nicht mehr ihrer Lebenswirklichkeit entsprechend wahrgenommen.
Insbesondere liegt dem Ganzen eine Idee zugrunde, die angesichts der aktuellen katholischen Kinderschändungskrise lächerlich erscheinen muß:
»Wenn es [ … ] nicht der Staat selber ist, der die Aufgabe der Sinnstiftung betreibt, er aber gleichwohl ein grundlegendes Interesse daran hat und haben muß, seinen Bürgern ein Wertgefüge, eine Lebensorientierung zu vemitteln, so versteht es sich fast von selbst, daß er, der Staat, kirchlicher und damit ja gewissermaßen staatsausgelagerter Sinnstiftung freundlich gesonnen ist und diese, wo er kann, fördert.«
Dieselbe Kirche, die hier als Wertgefüge und Lebensorientierung vermittelnd notwendig für den Staat gesehen wird, also als ultimate moralische Instanz gedacht wird, erscheint im Umgang mit ihren eigenen Folteropfern hilflos und vertuschend. Telepolis spießt diesen moralischen Bankrott in Ausstieg aus der gesamten moralischen Geschichte sauber auf.
Die Gefährlichkeit dieses Institutionsversagen geht einem erst dann auf, wenn man Kirchenrecht verstanden hat:
Kirchenrecht ist das von Religionsgemeinschaften selbst gesetzte interne Recht. Entgegen dem Wortlaut betrifft das Kirchenrecht keineswegs nur Kirchen, sondern alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Als Konsequenz von Religionsfreiheit und der Trennung von Staat und Kirche ist in Deutschland das Recht der Religionsgemeinschaften, innere Angelegenheiten selbst zu regeln, in der Verfassung, dem Grundgesetz, verankert (Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 III WRV – kirchliches Selbstbestimmungsrecht). Hat die jeweilige Religionsgemeinschaft den Status einer Körperschaft des Öffentlichen Rechts (sog. Körperschaftsstatus), so ist ihr internes Kirchenrecht Öffentliches Recht. Dabei geht das deutsche Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung davon aus, die Rechtsetzungsbefugnis der Religionsgemeinschaften sei nicht vom Staat abgeleitet oder verliehen, sondern originär.
Damit landen wir dann bei der Körperschaft Öffentlichen Rechts , einem Konstrukt, das es bestimmten Kirchen (jenen mit Körperschaftsstatus) erlaubt, eigenes Recht zu sprechen, geltendes Sozialrecht nicht anzuwenden, eigene Beamte einzusetzen und einige andere seltsame Dinge mehr zu tun, da auf eine seltsame Weise das Innere einer solchen Körperschaftskirche außerhalb der grundgesetzlichen und staatlichen Ordnung existiert.
Grad bei der katholischen Kirche hat man da einige kognitive Dissonanzen: “Wir haben eine kirchliche Rechtsordnung ” sagt der Hamburger Weihbischof Hans-Jochen Jaschke und “Die Kirche sei ein eigener Raum und man müsse zusammen mit den Opfern und Tätern entscheiden, wie die Staatsanwaltschaft ins Spiel kommt.”. Damit bezieht er sich auf genau diese staatliche Vakuum, das die Körperschaft Öffentlichen Rechts mit ihren eigenen Regularien füllen kann und soll, und das im Fall der katholischen Kirche in den letzten 70 Jahren so massiv und anhaltend versagt hat.
Die hinter diesem letzten Artikel stehende Geisteshaltung und Rechtsauffassung ist überhaupt nur aus der Historie von Kirche und Staat in Deutschland in den letzten 1000 Jahren verständlich. Die meisten Deutschen haben weder diese Perspektive noch den Willen, diese Position einzinehmen - sie sind zu Recht empört, denn sie erwarten natürlich von einer Organisation, die sich teilweise außerhalb der garantierten Rechte des Grundgesetzes stellen kann und die auch im 2. Vatikanischen Konzil noch behauptet, die einzig seligmachende Heilslehre im Wortsinn zu vertreten, daß diese Organisation selbst in ihren eigenen Reihen für die Aufrechterhaltung der Mindeststandards sorgt, die in dem Staat gelten, in dem sie tätig ist, wenn sie nicht sogar darüber hinaus geht. Das tut die katholische Kirche in ihrer Reaktion auf die Aufdeckung der Massenmißbräuche in vielen Nationen der Erde nicht - sie reagiert stattdessen abwehrend, überheblich, verzögernd und kritikunfähig. Daß dies der Weg zu Seelenheil und einer besseren Welt ist glauben hoffentlich nicht einmal die Mitglieder dieses Vereins.
Oder man zieht die Konzequenzen und beschneidet die Körperschaften Öffentlichen Rechts so, daß sie zwar weiter Organisationsfreiheit haben können, aber nicht hinter den Stand des Grundgesetzes zurück fallen dürfen. Die katholische Kirche hat das ja anders herum auch gemacht, in GS 5 :
Autoritäre Staatsmodelle stützt die Kirche nicht mehr, insbesondere dann nicht, wenn diese totalitäre Ideologien verbreiten.
Dadurch wollte man die Fehler der katholischen Kirche im Umgang mit dem Naziregime für die Zukunft verhindern.
(Dieser Artikel ist eine Art Destillat von ca. 55 Firefox-Tabs, die im Laufe des letzten Monats angefallen sind, und ohne ein Lesen der Texte hinter jedem einzelnen Link wahrscheinlich nicht verständlich, da eine komplizierte Rechtsmaterie und etwa 1000 Jahre europäische Geschichte berührt werden. Außerdem bin ich kein Verfassungsrechtler, sondern nur ein interessierter Laie mit einem gesunden Rechtsempfinden und dem Wunsch zu verstehen wieso solcher Irrsinn in 2010 noch legal ist)