Das Schweigen der Lemmata

Ich huste mir daheim zwar einen ab, aber es handelt sich nur um die geräuschvollen Nachwirkungen eines gewöhnlichen viralen Infektes, und nicht um irgendein H?N?. Das ist gut.
Trotz Rotz und Keuch habe ich dem Jochen Reinecke von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ein paar Fragen betreffend Wikipedia beantwortet, und die sind heute ebenda unter dem schamlos verbalsadistischen Titel “Das Schweigen der Lemmata” veröffentlicht worden.
Da ich heute nicht Zug fahre, kenne ich den Inhalt der FAS leider nicht, aber in Absprache mit Herrn Reinecke drücke ich meine Antworten auf seine Fragen auch noch mal hier direkt ins Blog. Wenn’s Gelalle ist, schieb ich auf’s Fieber. :-)
Update: Die FAS-Version der beiden Interviews im Planckton -Blog der FAZ, und den Artikel findet man mittlerweile online in der Web-FAZ .
Jochen Reinecke: “In einem Satz: Was bedeutet die Wikipedia für Sie?”
Kristian Köhntopp: Ich habe in meinem Browser Kürzel für Suchfunktionen - “wp suchwort” wird zu einer Suche auf der englischen Wikipedia und “wpd suchwort” zu einer Suche auf der deutschsprachigen Wikipedia. Das bedeutet, daß Wikipedia wie die anderen Suchkürzel in meinem Browser beim Arbeiten, Fernsehen oder was ich sonst so am Rechner mache allgegenwärtig und niemals weiter als eine Kommandozeile entfernt ist.
Ich habe noch einen Brockhaus in 30 Bänden im Regal, aber ich weiß, daß ich in den vergangenen 10 Jahren vielleicht zwei Dutzend mal dort etwas nachgeschlagen habe. Auf der anderen Seite sagt mir meine Browser-History, daß ich alleine heute schon mehr als 12 Wikipedia-Suchen mit wp oder wpd gefahren habe.
J: Die Relevanzdiskussion in der Wikipedia hat weite Kreise gezogen. Hat Sie die Heftigkeit der Reaktionen aus allen Schichten (Admins, Blogger, Autoren, Nutzer) überrascht?
K: Ich bin in der Wikipedia-Hierarchie beinahe ein reiner Nutzer, und über die Artikel in Fefes Blog in diese ganze Sache hereingezogen worden. Zwar habe ich seit mehr als fünf Jahren einen Wikipedia-Login, aber ich habe nur sehr wenige kleine Änderungen gemacht. Von den internen Strukturen der Wikipedia und der Aktivität hinter den Seiten habe ich vor dieser Diskussion eher wenig mitbekommen. Ich glaube, das geht den meisten Menschen so.
Wikipedia wird meistens ‘vertikal’ genutzt - ‘wpd Fachbegriff’, den Artikel lesen und weg. Auf der Artikelseite lesen die meisten Menschen auch nur den Artikeltext - die Quellennachweise und Belege am Ende sind aus dem Blickfeld gerückt, kleiner gesetzt und nicht sehr direkt an den Artikel gebunden. Personen treten gar nicht auf, die Diskussionseite ist versteckt und es ist nicht erkennbar, welche Passagen des Artikels umstritten sind oder waren oder daß es so etwas wie Streit um bestimmte Passagen im Artikel überhaupt gegeben hat.
In Wikipedia treten Personen hinter Artikel zurück und Diskussionen in der Wikipedia haben wenig Prominenz außerhalb - die Begriffe Inklusionist und Exklusionist sind mir jedenfalls vor der Diskussion nicht geläufig gewesen.
Insofern ist diese Diskussion für mich wahrscheinlich genau so neu gewesen wie für die meisten Gelegenheitsbenutzer.
J: Halten Sie selbst eher eine inklusionistische oder exklusionistische Herangehensweise für sinnvoll?
K: Ich bin, glaube ich, formal einem gemäßigten inklusionistischen Lager zuzurechnen. Spam und Tastaturtests haben in der Wikipedia klar nichts zu suchen, aber wenn ein Artikel eine gewisse, eher niedrige Mindest-Entwicklungsstufe hat, dann sollte er meiner Meinung nach erhalten bleiben. Ich halte es aber für dringend notwendig, Reife und Qualität eines Artikels auch für den Laien direkt erkennbar zu machen.
Wikipedia ist heute klar eine Enzyklopädie, die sich am Modell traditioneller Holzenzyklopädien orientiert. Das ist sicher auch den verschiedenen Lexika-Tests von vor 5 Jahren geschuldet, in denen sie an Brockhaus, Encarta und der Britannica gemessen wurde. Damals hat sicher eine Menge Druck auf die Wikipedia-Autorengemeinschaft gewirkt, und die exklusionistische Kultur ist sicher auch auf das Wettrennen um Qualität aus dieser Zeit zurückzuführen.
Diese Zeiten sind nun insofern vorbei, als daß die meisten dieser Holzenzyklopädien pleite sind, oder auf der Suche nach einem Internet-Geschäftsmodell. Für Wikipedia ist es meiner Meinung nach nun Zeit, diese hinter sich zu lassen und in etwas zu verwandeln, das eine Holzenzyklopädie nicht sein kann.
J: Glauben Sie, dass sich die aktuellen Probleme eher organisatorisch oder technisch lösen lassen?
K: Als ob man das so sauber trennen könnte. Wikipedia braucht eine andere Ausrichtung und daher auch andere organisatorische Strukturen, aber dann natürlich eine Technik, die das unterstützt und eine Benutzerinterface, das korrektes und erwünschtes Verhalten ermutigt und erleichtert.
Zur Zeit haben wir in der produktiven Wikipedia Strukturen, die das Gegenteil tun .
Wikipedia-Seiten sind anonym und sehen inert aus - für den Gelegenheitsnutzer ist in der Standardansicht nicht erkennbar, ob Teile einer Seite schlecht belegt sind, ob Teile einer Seite umstritten sind oder waren.
Es wäre leicht, einen Zeitstrahl auf jeder Artikelseite zu generieren, der visualisiert, zu welchen Zeitpunkten sich Änderungen an einem Artikel gehäuft haben. Es wäre auch leicht, neben einem Artikel einen Änderungsbalken zu malen, der zeigt, an welchen Passagen eines Artikels sich Änderungen gehäuft haben und dort die entsprechenden Benutzer zu verlinken. Es wäre leicht, die Autoren, die an einem Artikel beteiligt waren, mit ihren Benutzer-Icons an einem Artikel zu verlinken.
Auf diese Weise wäre nicht nur für einen Gelegenheitsnutzer erkennbar, wie ausgereift oder stabil ein Artikel ist, sondern Wikipedia könnte auch ein Gesicht bekommen. Man könnte erkennen, daß jede einzelne Seite ein Produkt von Mitgliedern einer Gemeinschaft ist.
Ich halte das für wichtig - es macht es leichter für einen Anwender, einen Artikel zu hinterfragen oder Artikelqualität auf einen Blick erkennen zu können. Es macht Wikipedia auch zugänglicher und motiviert vielleicht mehr Leute, sich konstruktiv an der Weiterentwicklung der Wikipedia zu beteiligen.
J: Haben Sie bisher Lösungsansätze von außen gehört, die einen Ausweg aus dem Dilemma zeigen könnten?
K: Ich habe inzwischen gelernt, daß es in Wikipedia selbst eine ganze Reihe von Diskussionen, experimentellen technischen Hilfsmitteln und Alternativvorschlägen gibt, wie auch die Diskussion zwischen Exklusionisten und Inklusionisten schon seit vielen Jahren läuft, jedoch ohne Ergebnisse zu haben oder Veränderungen zu bewirken. Auf eine Weise dümpelt Wikipedia vor sich hin: Was bisher gefehlt hat, war ein Anlaß sich zu verändern.
Die Diskussion um den MoGIS-Artikel, die Felix von Leitner losgetreten hat, und ihre Folgen sind vielleicht in der Lage, diesen Anlaß zu liefern. Das würde den Initiativen zur Weiterentwicklung in der Wikipedia eine gemeinsame Richtung und die notwenige Motivation zu geben, und Wikipedia könnte über Holz-Enzyklopädien hinauswachsen. Damit meine ich weniger eine technische Entwicklung, als vielmehr eine Weiterentwicklung in der Art und Weise wie wir Erkenntnis vermitteln oder den Grad an gesicherter Wahrheit visualisieren, der in einem Lexikon-Artikel steckt.
Darum geht es bei der ganzen Debatte Inklusionisten vs. Exklusionisten ja im Kern: Die Exklusionisten möchten alles aus der Wikipedia heraushalten, was nicht durch Belege von reputablen Veröffentlichungen belegbar ist - am Besten mehrfach. Ihnen ist Unanfechtbarkeit wichtiger als Umfang. Dem Inklusionisten ist dagegen Umfang oder Abdeckung wichtiger als Unanfechtbarkeit oder Belegbarkeit.
Meine Position ist eher die eines Inklusionisten, aber ich halte die exklusionistische Position für wichtig und wertvoll. Ich glaube nur, daß man das nicht so schwarzweiß sehen sollte, wie es in der derzeitigen Kultur der Wikipedia diskutiert wird. Artikel werden immer unterschiedliche Qualität haben, aber auch in qualitativ schlechten Artikeln steckt oft schon die Information, die ich grade suche - und wenn es nur die Bestätigung ist “Dieses Konzept gibt es” und “Hier sind weitere Googleworte zum Thema für Dich”. Eine Visualisierung von Qualität, Quellenlage und strittigen Passagen finde ich aber enorm hilfreich und wichtig. Das macht Abstufungen zwischen Löschen und Behalten möglich und erlaubt eine viel differenziertere Auseinandersetzung.
**J:**Sehen Sie die Gefahr, dass die Wikipedia aufgrund ihrer schlichten Größe und damit letztlich auch Vielzahl der Mitglieder an Diskussionen dieser Art zerbrechen kann?
K: Ich grinse. Ausgehend von den Diskussionen in der Wikipedia, die mir bekannt sind, besteht diese Gefahr nicht einmal entfernt. Bei allem akademischen Eifer und Elan, der in diese Diskussion fließt, habe ich dennoch den Eindruck, daß alle Parteien an derselben Sache arbeiten - und das ist Wikipedia zu einer noch besseren Wissensquelle zu machen und eben hoffentlich auch, diese Qualität nachvollziehbar darstellbar zu machen.
Wikipedia wirkt anonym und entpersönlicht, wenn man sie nur benutzt und nicht mitarbeitet. Aber da sind viele hundert engagierte Einzelpersonen hinter den Kulissen am Zusammenarbeiten. Wikipedia ist nur enorm schlecht darin, diese Personen sichtbar zu machen und die Diskussionen zwischen diesen Personen und den Gruppierungen, die sich da gebildet haben, sichtbar zu machen. Wir haben hier ein ständiges Ringen um Wissen, um Korrektheit, um Abdeckung und um Quellen. Nichts davon ist im Produkt unmittelbar erkennbar. Das ist schade, denn es ist wichtige Information, die bei der Bewertung von Artikeln genauso hilfreich ist wie dabei, diese Leute zu motivieren.
J: Könnte hier eine Art oberster “Chef” oder “Geschäftsführer” mit Entscheidungsgewalt helfen?
K: Keinesfalls.
Wikipedia ist eine Gemeinschaft, und Motivation genau wie Entscheidungen müssen von innen heraus kommen und von einer stabilen Mehrheit getragen werden - welchen Grund gibt es denn sonst, dort mitzuarbeiten, wenn nicht persönliche Überzeugung und den Willen, persönlich daran mitzuarbeiten, die Welt an einer Ecke in einen besseren Ort zu verwandeln? Wikipedia kann man nur anführen, indem man überzeugt, nicht indem man kommandiert. Nichts anderes wird dem Projekt und seinem Geist gerecht.
J: Angenommen, es gäbe die Wahl zwischen einer rein inklusionistischen und hart exklusionistischen Gangart: Welche Chancen und welche Risiken würden diese beiden Gangarten bergen?
K: Die Frage ist meiner Meinung nach unsinnig, und dem Verbleiben in der Denkweise einer Holzenzyklopädie geschuldet. Die ganze Debatte läuft in der Wikipedia selbst schon seit Jahren, und wenn man eine Lösung wollte, dann muß man die ganze Frage endlich transzendieren und Wege finden, die Ziele der beiden Gruppieren klar und positiv zu formulieren und dann innerhalb desselben Systems zu befriedigen. Das geht. Unterschiedliche Visualisierungen derselben Daten, Anzeigefilter, die Artikel unterhalb einer Qualitätsschwelle unterdrücken oder gar unterschiedliche Websites auf demselben Datenbestand sind ja technisch überhaupt kein Problem.
Der ganze Konflikt besteht doch nur, wenn man meint, es gäbe eine Wahrheit, den Prozeß des Ringens um diese Wahrheit aber nicht darstellt oder nicht darstellen will.