Communityfix

Ich schrieb in Der alljährliche Wikimedia-Spendenaufruf :
Bitte seht davon ab, die Spende mit einer Zweckbindung “für …” zu versehen. Das macht der Vereinsbuchhaltung bei Wikipedia geradezu unglaubliche Arbeit. Danke sehr!
Daraufhin fragte Thomas:
Ui, ist das ein Aufruf zum dDOS?
Meine Antwort ist länger geworden und verdient einen eigenen Artikel.
“Nein, das ist genau das, was da steht.”
Ihr helft niemandem, wenn ihr die Verwaltung von Wikimedia Deutschland blockiert, insbesondere nicht dem meiner persönlichen Meinung nach berechtigten Anliegen, die Strukturen der Wikipedia transparenter und offener zu machen.
Man kann diese ganzen Aktionen des letzten Monats um die Wikipedia herum als Krieg auffassen, als Diskussion oder als Kommunikationsversuch. Wie immer man es deutet, man sollte dabei unbedingt das erwünschte Ziel direkt vor Augen behalten, ja es vielleicht sogar ausformulieren und auf einem Blatt Papier fixieren und neben den Monitor heften. Das hilft sehr.
Nur wenn man sich diese Mühe macht, dann wird man sein eigenes Verhalten daran messen, ob es diesem Ziel förderlich oder hinderlich ist, und man hat einen Maßstab für das eigene Handeln.
Das ist genau das, was einen Mob von einer strukturierten Organisation unterscheidet und was eine destruktive Denial Of Service Attacke von einer konstruktiven Aktion unterscheidet, mit der man eine Organisation auf ihr Problem aufmerksam macht und ihr dann hilft, es sinnvoll in den Griff zu bekommen.
Aktionsziel
Mein Zettel sähe etwa so aus:
Wikipedia hat meiner Auffassung nach eine Reihe von Problemen.
- Das eine ist eine stagnierende Software, sowohl was die Infrastruktur angeht (Scytale’s Levitiation und Fefes ‘Wir serven HTTP direkt aus einem GIT’ können da helfen) als auch was das Benutzerinterface angeht (Sauber degradendes Javascript und eine bessere Benutzerführung können da helfen).
- Das zweite ist eine außer Kontrolle geratene Löschkultur, die meiner persönlichen Meinung ihre Ursache einmal in durch zu niedrig angesetzte Eingangshürden erzeugten Streß hat, zum anderen durch - das ist schwer korrekt zu formulieren - eine Art Holzmedien-Dünkel geprägt ist.
- Der dritte ist eine Kultur, die grad sauer wird oder schon umgekippt ist, und das habe ich in dem Communitygift-Artikel ja versucht darzulegen.
Strukturelle Defizite
Die Wikipedia-Website ist strukturell angelegt, daß
- sie vereinzelt,
- sie kurz und unpersönlich kommuniziert und daß
- sie Multiplikatoreffekte verhindert.
Das macht es Anfängern schwerer als nötig, einzusteigen und es macht es für die Ausbilder aufwendiger als nötig, ihren Job zu tun.
Es mag sein, daß es noch mehr Probleme gibt, die sich herausarbeiten lassen, aber das sind die drei Dinge, die sich mir derzeit am klarsten erkennbar darstellen.
Ich halte die Arbeit, die sich Scytale und Fefe mit der Software machen für wichtig und richtig. Aber für noch wichtiger hielte ich es, wenn man sich einmal überlegte, wie man denn die Wikipedia-Website umgestalten könnte.
Ansatzpunkte
Ich wünsche mir, daß die Site auf der einen Seite eine bessere Bewertung der Artikelqualität auch für Gelegenheitsnutzer zuließe. Ich glaube nicht, daß ein Gelegenheitsnutzer den Blick hat, mit dem er einen prämierten und ausgezeichneten Wikipedia-Artikel von einem durchaus langen, aber qualitativ unzureichenden Artikel unterscheiden kann.
Die aktuelle Form der Artikel unterstützt das auch nicht gut - wie könnte man die in den Citations enthaltenen Fakten mit dem Artikeltext besser verknüpfen, sodaß besser erkennbar wird, was im Artikeltext belegt und was nicht belegt ist? Wie kann man sichtbar machen, welche Teile eines Artikels strittig und welche unstrittig sind? Wie kann man den Vollständigkeitsgrad eines Artikels schnell erfaßbar machen? Und wie kann man das alles so gestalten, daß es cool aussieht, oder daß man zwischen diesen Artikelansichten schnell wechseln kann?
Wenn an einem Artikel etwas nicht in Ordnung ist, oder strittig ist, dann muß Kommunikation stattfinden.
Wikipedia ist zur Zeit technisch ein mittelmäßiges Lexikon und ein wirklich schlechtes Forum. Wie kann man, nein, wie muß man die Wikipedia-Site ändern, damit eine bessere und durchaus persönlichere Form der Auseinandersetzung mit strittigen Fragen möglich wird? (Persönlich nicht im Sinne von ‘persönlich werden’, sondern im Sinne von ‘damit man sich des Menschen hinter den vier Tilden besser bewußt wird’)
Am Ende ist die Frage, wie man die Probleme, die ich in Communitygift versucht habe zu skizzieren angeht, und wie man sie durch die äußere Form und die Mechanismen der Site selber unterstützt.
Ein besserer Prozeß
Damit ist es jedoch nicht getan, Wikipedia hat auch Prozeßprobleme.
Es gibt ein Mentorensystem, aber es erscheint mir optional und es scheint zu erfordern, daß ein Neuling davon weiß und aktiv nach einem Mentor fragt, damit es greift. Jedenfalls ist nach meinem Informationsstand nicht sichergestellt, daß ein Neuling vom Mentorensystem erfährt und er einen Mentor angeboten bekommt. Offenbar ist das Mentoring auch mehr oder weniger 1:1, das heißt jeder Neuling bindet einen vollen Mentor und Dritte profitieren nicht von der Arbeit, die ein Mentor sich mit einem Neuling macht.
Besser wäre etwas, bei dem ein Mentor sich mit einem Neuling befaßt und bei dem eine kleine Gruppe von Dritten auf einem ähnlichen Level das verfolgen könnte, ähnlich wie eine Schulklasse der Unterhaltung zwischen einem Lehrer und dem Schüler der grade dran ist verfolgt und davon profitieren kann. Man braucht also einen Mechanismus, der einem Mentor mehrere Schüler mit kompatiblen Hintergründen und Zielen zuordnet und beim den diese kleine Gruppe nicht nur allen Mentor-Schüler-Dialogen folgen kann, sondern sich auch gegenseitig helfen kann.
Mir ist nicht klar, ob es ein Ausbildungsprogramm für Mentoren gibt, und einen Plan der zu vermittelnden Inhalte und eine Liste von zu erreichenden und womöglich gar zu verifizierenden Lernzielen. Das würde sicherlich helfen, die Arbeit der Mentoren zu erleichtern und es würde auch die gewünschte Kultur von Wikipedia verbalisieren und damit einem Diskurs formal zugänglich machen. Das ist für mich ein ganz zentraler Punkt.
Die passive Aggressivität
Mir stellt sich Wikipedia von der Kommunikationskultur her als passiv-aggressiv dar, und ich empfinde auch eine gewissen Wagenburg-Mentalität. Ich habe meine Theorien, warum das so ist, aber ich habe keine Belege dafür, sondern nur Vermutungen.
Da ist einmal die Tatsache, daß im Löschprotokoll jede Menge Artikel aufzufinden sind, die keine sind, sondern nur Schmierereien. Das bindet nicht nur Ressourcen, sondern es erzeugt auch ein ‘Wir gegen die’ im Gehirn der Leute, die da aufräumen, einen ‘Muss sauberhalten’-Reflex, der auch dann nicht aufhört zu ticken, wenn diese Personen andere Dinge in der Wikipedia tun.
Ich glaube tatsächlich, daß eine höhere Einstiegshürde hier helfen würde. Ich glaube fest daran, daß man mit offenem Visier arbeiten sollte und ich sehe keinen Grund, warum jemand anonym, also ‘als IP’, neue Artikel anlegen können sollte - es wäre getrennt zu evaluieren, ob jemand ‘als IP’ bestehende Artikel überarbeiten können sollte oder wie das mit strittigen Artikeln, geprüften Versionen und anderen qualitätssichernden Mechanismen zusammenspielt.
Jedenfalls sehe ich Wikipedia ganz sicher als etwas, das einer Ausbildung von Neulingen bedarf, was Ziele, Arbeitsweise und Kultur angeht - genau genommen sogar, was das Lesen von Artikeln angeht, siehe meine Bemerkungen zur Visualisierung von Qualität oben. Ich kann daher nicht erkennen, wie ein anonymer Benutzer eine Chance haben sollte, einen sinnvollen neuen Artikel zu erzeugen - 99% Spam über diesen Kanal stellen den Wert des Kanals selbst in Frage.
Soweit ich weiß ist die englische Wikipedia auch schon so weit und läßt ’eine IP’ keinen Artikel mehr anlegen.
Wenn man den Streß bei den Löschköpfen senkt, indem man den Müllstrom einfach zudreht und an alle eingehenden neuen Artikel auch zwingend Namen dran baut, dann wird sich die Situation mit Sicherheit für alle Beteiligten massiv entspannen. Wikipedia ist dann nicht mehr anonyme Landschaft, sondern ein Garten, also Gegend, die jemand gehört und Änderung der Gegend, wobei die Änderung auch jemandem gehört.
Individuelle Ansprache, vor Publikum
Die passiv-aggressive Weise findet ihren Niederschlag auch in den ‘Ausbildungsmaterialien’, die ich gesehen habe. Es ist vollkommen sinnlos und pädagogisch totaler Irrsinn, jemanden mit einem WP:RK auf 22 Druckseiten Relevanzkriterien zu schicken. Ähnliche Materialien, die in der Wikipedia auch zur Ausbildung verwendet werden, sind einem ähnlich trostlosen textwüstigen Zustand und können bestenfalls zur Textbausteinigung von Neulingen verwendet werden. So etwas produziert man nicht, wenn man jemanden aufnehmen und zum Erfolg führen will, sondern so gestaltet man Material, das abschrecken soll.
Sinnvolle Materialien sind klein, sodaß sie verwendet werden, um einen Neuling gezielt zu der Antwort zu senden, die ihm weiterhilft. Und die Antwort wird nicht als WP:XY gegeben, sondern als
Ich sehe in Deinem Artikel das Problem p. In WP:XY wird erklärt, warum das ein Problem ist und wie wir in der Wikipedia dazu gekommen sind, das als Problem zu sehen. In Deinem Fall würde ich p lieber als p’ formulieren, dann vermeidest Du das.".
Die Länge der Antwort in WP:XY ist so bemessen, daß sie den Neuling nicht erschlägt, und sie enthält Verweise auf andere ähnliche Antworten oder Folgefragen, die erwartungsgemäß auftreten werden und einen Verweis auf eine Landkarte bzw. ein Inhaltsverzeichnis, damit man sich orientieren kann.
Ich glaube, ein weiterer Grund für die Wagenburg-Mentalität und die Affinität zu Holzmedien, die ich herauslese, ist Brockhaus-Neid. In der Vergangenheit hat Wikipedia sich beweisen müssen und ist von den Medien an den Bertelsmann- und Brockhaus-Lexika gemessen worden. Beide sind inzwischen Geschichte, aber Wikipedia befindet sich meinem Eindruck nach immer noch in der Tradition und im Wettbewerb mit diesen Enzyklopädien, anstatt sich davon zu emanzipieren und Wege zu finden, darüber hinaus zu wachsen.
Es gibt ganz klar Möglichkeiten, über die Kommunikationsmethoden von totem Papier hinaus zu gehen, wenn man eine Website ist, aber Wikipedia entwickelt keinen erkennbaren Versuch das zu tun. Mit einer besseren Visualisierung von Qualität, Fakten und Diskurs kann Wikipedia nicht nur Wissen darstellen, sondern auch den Streit um und die Suche nach Wissen darstellen, und damit klar machen, wie es gewonnen und belegt wird. Das ist meiner Meinung nach die Mission, die Wikipedia annehmen muß, um sich weiterzuentwickeln und ich halte es durchaus für legitim, das einzufordern.
Solche Strukturen erlauben es der Wikipedia dann auch, mit strittigen und unfertigen Dingen, aber auch mit transienten Themen auf eine Weise umzugehen, die es der Wikipedia erlaubt, die Zeit und den Aufwand der Autoren zu ehren anstatt als zentrales Reaktionsmittel auf fragwürdige Dinge nur die Löschung zu haben.
Das heißt, das Kommunikationsziel dieses ganzen Diskurses ist für mich, die Wikipedia als Organisation zu lehren, differenzierter als mit ‘Löschen’ zu kommunizieren und sich strukturell und technisch von Holz-Lexika zu emanzipieren. Beides gehört untrennbar zusammen.