Communitygift

isotopp image Kristian Köhntopp -
November 11, 2009
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Update: Diejenigen von Euch, die vom Trackback hierher kommen, finden alle Artikel zum Thema Wikipedia unter dem Tag Wikipedia. Die Diskussion ist seit der Aufnahme für die Sendung schon ein paar Artikel weiter gegangen.

KaiL hatte mich heute im IRC noch auf Der alljährliche Wikimedia-Spendenaufruf angesprochen und ich hatte ihm versprochen, noch einmal genauer aufzuschreiben, wieso ich Wikipedia als Projekt für kaputt halte. Dies ist der Versuch, meine zunehmende Distanz zum Projekt Wikipedia als positive und konstruktive Kritik zu formulieren. Ich hoffe, es hat ein bischen geklappt.

Seit fast einem Monat läuft die von einem relevanten Blog initiierte Diskussion über die Wikipedia.

Die Diskussion begann damit, daß jemand in der deutschen Wikipedia begann, einen Löschantrag gegen das Lemma Mogis zu stellen, was in Fefes Blog aufgegriffen wurde. In der Folge gab es eine relativ wenig strukturierte Diskussion innerhalb und außerhalb der Wikipedia um die Relevanzkriterien und den Umgang mit ihnen in der deutschen Abteilung der Wikipedia.

Im Fortgang der Diskussion gewann ich immer mehr den Eindruck, daß die Wikipedia eigentlich ein tieferliegendes strukturelles Problem hat: Sie ist schrittweise hermetisch geworden und sie kommuniziert destruktiv.

Anderswo…

Um das zu erläutern muß ich vorab erklären, daß meine Beschreibung hier Eindrücke von jemandem sind, der Wikipedia von außen sieht und sich im letzten Monat versucht hat, ein wenig mit dem Projekt zu befassen - ein Versuch, den ich im Grunde als auf ganzer Linie gescheitert betrachten kann.

Ich bin eigentlich jemand, der mit einer ganzen Menge Online-Projekt-Communities zu tun hat, und der sich auch als jemand sieht, der Gruppen vernetzt. In den meisten Gruppen, mit denen ich zu tun hatte, habe ich mich sehr willkommen gefühlt. Das hat auch damit zu tun, daß man dort sofort mit Personen zu tun hat und daß es adequate Infrastruktur gibt, die Interaktion fördert.

Das ist besonders wichtig, wenn es um den Umgang mit Beiträgen von Neulingen geht. Von diesen Beiträgen gibt es zwei Sorten: Die eine Sorte hat einen erkennbaren eigenen Wert, auch wenn der Beitrag so nicht direkt ins Projekt übernommen werden kann, und die andere hat einen solchen Wert nicht. Letzteres ist das, was Wikipedia als Vandalismus bezeichnet.

Die meisten Projekte haben keine Probleme mit Vandalismus. Das liegt daran, daß sie das nicht zulassen, was in der Wikipedia ein anonymer Edit wäre, also ein Edit von einem Benutzer ohne Account (Wikipedianer nennen einen solchen Benutzer ’eine IP’, wobei man das wie ’eine Kakerlake’ betonen muß, damit die implizierte Bewertung mit kommuniziert wird - und das ist schon mal das erste Problem).

Zwar nehmen alle Projekte Beiträge von nicht registrierten Neulingen an, aber sie schalten diese Änderungen nicht frei. Stattdessen haben solche Projekte an Stelle des Wikis ein anderes, fortgeschritteneres Versionskontrollsystem - zum Beispiel git oder etwas Vergleichbares. Ein Neuling kann sich das Repository eines Projektes zur Gänze oder in Teilen kopieren und Änderungen von der offiziellen Kopie bei sich einarbeiten lassen. Seine eigenen Änderungen sind allerdings erst einmal lokal, und damit sie in die offizielle Kopie übernommen werden können muß man sich das Recht holen, dort Änderungen einstellen zu dürfen - man muß Commit-Karma bekommen.

Meist bekommt man das nicht sofort, sondern durchläuft eine Art Probezeit, während der man seine Änderungen an einen Mentor übermittelt, der sie durchsieht, Anmerkungen zurück gibt und die Änderungen erst dann in die offizielle Kopie weiterfließen läßt, wenn sie den Ansprüchen des Projektes genügen.

Andere, liberalere Projekte arbeiten anders herum: Sie haben ’trailing controls’, bei denen dem Neuling sofort Karma gegeben wird, aber der Mentor die Änderungen seiner Neulinge nachverfolgt und retroaktiv kommentiert oder in katastrophalen Fällen rückgängig macht - mit einem Versionskontrollsystem ist das ja trivial machbar.

Das Wesen dieses Zugangs zum Projekt ist der Aufbau von persönlichen Beziehungen zwischen den Teilnehmern, und damit eine aktive Integration in die Gruppe und das Vermitteln der Gruppenkultur an Neulinge sowie umgekehrt bis zu einem gewissen Grad ein ständiger Review der Gruppenkultur duch die Neulinge.

… und Wikipedia

Wikipedia macht eine ganze Menge von Dingen anders, und dadurch werden solche Integrationsprozesse nicht erzwungen und nicht gefördert. Da ist einmal wie bereits erwähnt die Tatsache, daß man - theoretisch - einfach so editieren kann, ohne sich irgendwie anzumelden oder mit einer Person zu reden. Das entfremdet von Anfang an - Menschen gehen mit ‘herrenlosen’ Dingen anders um, als mit Dingen, bei denen sie wissen, daß sie einer Person gehören oder von einer Person betreut werden. Es gibt einen Unterschied zwischen ‘so Sachen’ und ‘jemandes Besitz’ - die wenigsten Menschen hätten Probleme, im Wald hinter einem Busch einen Haufen zu machen, aber die meisten Menschen tun das nicht in irgendjemandes Garten.

Wikipedia wirkt von außen als ‘so eine Sache’ und nicht als ‘jemandes Besitz’ und wird auch in Berichten über Wikipedia immer wieder so portraitiert. Ich wette, das zieht die Eingangsqualität von Änderungen gewaltig nach unten - hinter jedem Busch ein stinkender Haufen. Umgekehrt rührt das Kakerlaken-Image von Änderungen durch IPs genau da her und damit ist die freundschaftliche Basis für eine gegenseitig befruchtende Beziehung zwischen einem Neuling und der existierenden Gemeinschaft schon mal gefährdet.

Aber einmal angenommen, ein Neuling holt sich einen Login, meldet sich an und beginnt an einem Artikel zu ändern. Dann passieren einige Dinge und eine Menge Dinge nicht. Ausgehend auf meinen Erfahrungen und denen der von mir befragten nicht repräsentativen Stichprobe gibt es keine Kontaktaufnahme von Person zu Person und auch kein kurzes konkretes Howto mit Beispielen ‘So geht’s - und so nicht’: Wikipedia bleibt ein anonymes Objekt und versäumt die Chance, sich ein persönliches Gesicht zu geben.

Zum einen sind die Chancen gut, daß die Änderungen des Neulings rückgängig gemacht werden. In der Regel wird dabei ein Einwortkommentar hinterlassen. Hier zum Beispiel ist eine Liste von Löschungen in der deutschen Wikipedia und dahinter jeweils der Kommentar - ‘Unsinn’, ‘Kein Artikel’, ‘Kein enzyklopädischer Inhalt’, ‘Löschdiskussion’. Für einen altgedienten Wikipedianer hat das alles einen Sinn, denn in der Wikipedia haben bestimmte vermeintlich deutsche Worte eine eigene, innerhalb der Wikipedia genau definierte Spezialbedeutung bekommen, ähnlich wie es mit bestimmten Begriffen im ‘Juristischen’ ist.

Dem Neuling ist dies alles nicht geläufig, für ihn ist ‘Unsinn’ keine Erklärung, sondern eine Beleidigung. Das ist der hermetische Aspekt. Parallel dazu hat man ihm noch dazu die in seine Änderung investierte Zeit entwertet. Das ist der destruktive Aspekt.

Credo des dclp FAQ Team

Kommunikationstechnisch läuft also das Folgende ab: Ein Neuling ist bereit, an einem Projekt mitzuarbeiten, das sich ihm noch nicht als Person vorgestellt hat und für das er auch noch keine belastbare Arbeitsanleitung erhalten hat. Dennoch ist er mit seiner eigenen Zeit und Mühe versuchsweise in Vorleistung gegangen.

Die Reaktion der ihm noch unbekannten Masse auf sein Bemühen ist unverständliche Kommunikation, Ablehnung und Beleidigung. Das ist Maximalschaden - das perfekte Communitygift, und das ist der Grund für den Titel dieses Textes.

In anderen Projekten ist das Vorgehen anders. In der de.comp.lang.php FAQ zum Beispiel versuchten wir damals Neulinge gezielt zu verändern und zu für uns als Gruppe nützlichen Helfern auszubilden. Unsere Eckpunkte waren:

  • Wir wollen nicht nur einem Neuling helfen, sondern wir wollen zu allen Zeitpunkten wie eine Person kommunizieren und den Neuling wie eine Person behandeln.
  • Darum kommunizieren wir immer in vollständigen Sätzen und ohne gruppenspezifischen Slang.
  • Wir wollen auch Standards für unsere Gemeinschaft setzen und kommunizieren daher immer in einem Ton, den wir von anderen in der Gruppe erwarten. Wir tun das unbedingt und immer und ausdrücklich selbst dann, wenn unser Gegenüber das nicht tut.
  • Wir personalisieren unsere Antworten und wir kommunizieren spezifisch und konkret. Zum Beispiel können wir einen Neuling auf Artikel in der FAQ hinweisen, aber wir tun das niemals kontextfrei und allgemein, sondern immer auf einen oder zwei spezifische Artikel in der FAQ und immer mit einer kurzen Brücke, die erklärt, wie die Antwort in der FAQ mit dem spezifischen Problem des Neulings in Verbindung gebracht werden kann.
  • Wir verstehen, daß wir Neulinge ausbilden müssen, um unsere Gemeinschaft zu stärken. Das bedeutet, daß wir von Neulingen keine Perfektion erwarten und daß wir einen vorbereiteten Pfad haben müssen, an denen wir den Neuling in seiner Entwicklung entlang führen können, bis er selber keiner mehr ist und stattdessen in der Lage ist, weiteren Neulingen unsere Kultur auf die von uns gewünschte Weise zu vermitteln.
  • Wir sind eine Gruppe. Das bedeutet, daß niemand von uns immer arbeiten muß, aber es bedeutet auch, daß niemand dem anderen die Arbeit schwerer machen sollte als notwendig. Wenn man also einmal nicht die Zeit oder die Kraft hat, einen besonders aussichtslosen Fall anzugehen, dann ist es wichtig, nichts zu unternehmen, um diese Person nicht für den Kommunikationsversuch eines anderen Gruppen-Helfers zu versauen.

Was man vielleicht erkennen kann: Diese Ideen sind darauf angelegt, einen Weg in die Gruppe rein zu zeichnen, ihn so leicht wie möglich zu gestalten und Kommunikation persönlich zu gestalten.

In der de.comp.lang.php FAQ hätte ein Neuling keine Änderung anonym vornehmen können. Wahrscheinlich wäre seine erste Änderung auch nicht auf einem Stand gewesen, daß man sie direkt in die FAQ hätte aufnehmen können.

Aber sie wäre nicht mit einer Einwort-Slangbegründung entwertet worden, sondern sie hätte einen Kontakt mit dem Team hergestellt, und es hätte eine konkrete Punkt-für-Punkt Kritik am Beispiel gegeben. Die redigierte Version wäre entweder direkt aufgenommen worden, oder dem Neuling zur weiteren Überarbeitung mit konkreten Zielen und weiteren Ratschlägen zurück gegeben worden.

Das Ergebnis wäre gewesen, daß er Neuling sich nicht alleine fühlt, sondern mit Personen kommuniziert hätte. Seine Änderung wäre nicht wirkungslos gewesen, selbst wenn sie abgelehnt worden wäre, sondern er hätte auf jeden Fall wertvolles und konkretes Feedback bekommen und er hätte auf jeden Fall ein klar definiertes und erreichbares Ziel gehabt, für das zu arbeiten er sich entscheiden kann.

Das heißt, es wäre Motivation generiert worden: Selbst ein Fehlschlag generiert noch einen Gewinn für den Neuling und dem Neuling wird klar, wie er relativ zu dem zu erreichenden Ziel steht.

Dieser Prozeß läßt sich noch verstärken, wenn man diese Kommunikation in einem gut strukturierten, öffentlichen Raum führt, etwa einer Mailingliste, auf der neben dem Neuling und dem Mentor noch weitere Neulinge mitlesen. Eine solche Diskussion bildet dann nicht nur den einen Neuling aus, um den sich der Mentor hier gerade kümmert, sondern an diesem Beispiel lernen auch die Neulinge schon etwas, die nur mitlesen. Sie können bestimmte Dinge schon im ersten Versuch vermeiden.

Neuling vs. Wikipedia

Schaut man sich den Onboarding- und Integrationsprozeß von Wikipedia an, dann erkennt man, daß keine einzige funktionierende Struktur existiert, die sicherstellt, daß ein Neuling überhaupt eine solche Sozialisierung und Ausbildung durchläuft. Weiterhin bemerkt man, daß keine Kultur für Onboarding und Ausbildung explizit gemacht oder gar vorgelebt wird. Wikipedia hat keine Tentakel, die Neulinge abgreift, einsaugt, indoktriniert und auf Arbeitsgeschwindigkeit bringt, aber ausgezeichnete Mechanismen, die im Grunde das Gegenteil davon bewirken.

Auch in der zweiten Ebene ist Wikipedia als Kultur nicht gut aufgestellt. Wenn man als Außenstehender Löschdiskussionen liest, dann sieht man hier einen Haufen Bürokraten (ich meine nicht den gleichlautenden Wikipedia-Slangbegriff), die sich mit seelenloser Regelanwendung bekriegen.

Was man nicht erkennt: Respekt vor der Zeit und Arbeit, die Autoren in Artikel hineingesteckt haben. Eine Löschdiskussion oder ein Revert ist eine Kommunikation, aber es ist eine Kommunikation durch Zerstörung - zerstört wird noch dazu die wertvollste Ressource eines freiwilligen Helfers: Seine Freizeit, die er in das Projekt gesteckt hat, wird entwertet, ohne daß irgendeine Form von positivem Feedback an ihn zurück fließt - Wikipedia frustriert nicht nur Neulinge, sondern auch gestandene, langfristig aktive Helfer systematisch.

Angenommen ich überlebte also meine Zeit als Neuling bei Wikipedia und würde ein aktives Mitglied in der Gemeinschaft Wikipedia, was immer das ist - wäre ich dann auch so wie die da? Und würde ich so werden wollen wie die Leute, die da diskutieren? Das sind die Fragen, denen man sich als Betrachter von außen stellen muß und wenn ich als normaler Mensch gelten kann, dann ist die Antwort automatisch ‘Argh! Igitt! Nein!’.

Und dann existiert noch eine dritte Ebene von Wikipedia und das ist die Ebene der Posten und Pöstchen für brave und engagierte Mitarbeiter. Die Vorgehensweisen, Prozesse und Verflechtungen dort sind für einen Außenstehenden nicht verständlich, ebensowenig wie die organisatorischen Zuständigkeiten - wer gehört wem, und gibt die eingenommenen Spenden für wen zu welchem Zweck weiter.

Neben dem unmittelbaren Eindruck der Intransparenz kommt zumindest für mich noch der Eindruck von fehlenden Checks und Balances dazu - mir ist nach einem Monat jedenfalls nicht klar, welche Mechanismen existieren, um etwa amoklaufende Admins und Löschköpfe einzubremsen. Zusammen mit einer Kultur fehlender Wertschätzung für die Zeit und Arbeit anderer erscheint mir das Fatal.

Thomas Nesges faßt das auf eine sehr prägnante Weise zusammen:

Das aktuelle Problem der Wikipedia ist mit Geld nicht zu lösen.

So ist es.

Je mehr ich über Wikipedia lerne, desto weniger begeistert sie mich. Communitygift. Frustrationsmaschine. Das müßte nicht sein. Es wäre sogar leicht zu ändern. Aber das setzte voraus, daß man das als Problem formuliert und akzeptiert und dann Änderungen in der Art der von mir oben beschriebenen Ansätze baute: Das heißt

  • Änderungen von Vandalismus unterscheiden
  • Die Zeit und Arbeit, die in Änderungen geflossen ist, wertschätzen statt sie zu zerstören.
  • Persönlich, konkret und ohne Slang kommunizieren.
  • Als Personen mit Personen kommunizieren, und dabei Standards in der Kommunikation auch einseitig unbedingt einhalten.
  • Ausbilden: konkret und positiv kritisieren und konkrete und erreichbare Ziele setzen.
  • Multiplikator-Umgebungen schaffen, in denen Neulinge von der Ausbildung an Anderen nebenbei partizipieren können.

Oh, und die Technik aktualisieren - Levitation ist technisch ein Meilenstein für Wikipedia. Aber ohne eine gewollte und gezielte Änderung der Kultur auch wirkungslos.

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