Markteintrittsschranke

isotopp image Kristian Köhntopp -
June 15, 2008
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In Die Wikipediatisierung des Wissens gibt es einen weiteren Artikel, der versucht, das Phänomen Wikipedia und nicht auf Code basierende Open Source Strukturen zu analysieren. Der Artikel verwendet das übliche Angstvokabular, das sich auch in vergleichbaren Artikel im Spiegel oder der Süddeutschen Zeitung findet:

Die entscheidende Frage ist: Ist die beeindruckende statistische Progression von Wikipedia auch eine kulturelle Revolution oder zumindest ihr Vorbote? Oder ist sie ein Teil der Informations-Versklavung und Wissens-Nivellierung im Zeitalter der allgemeinen Datenexplosion?

Man beachte die Wortwahl: “Revolution”, “Versklavung”, “Nivellierung”, “Explosion”. Dem kann ich nur einen Erikativ entgegen setzen: seufz.

Klar kann man an der Wikipedia rum kritisieren, und in ihr - wie in Artikeln in traditionellen Medien üblich - den Untergang des Abendlandes sehen. Oder wie in dem verlinkten Telepolis-Artikel aus den nationalen Unterschieden und der wechselnden Qualität metaphysische Volksseelenbefindlichkeiten zu extrahieren.

Aber das alles ist meiner Ansicht nach gar nicht der wesentliche Punkt. Wikipedia ist für Lexika wie Linux für Betriebssysteme in gewisser Weise definitiv. Nicht definitiv in dem Sinne, daß es der Weisheit letzter Schluss ist, sondern definitiv in dem Sinne, daß es für einen bestimmten Markt das untere Ende der Messlatte festlegt. Jedes kommerzielle Produkt muss sich an seiner frei verfügbaren Variante messen lassen und die positiven Eigenschaften des frei verfügbaren Produktes nicht nur erreichen, sondern auch noch so viele weitere Eigenschaften haben, daß es dem Kunden das Ausgeben von Geld wert ist.

Das ist spannend, denn es kann dazu kommen, daß das freie Produkt den Markt komplett verschließt - es gibt keine essenziellen Probleme mehr, die von einem kommerziellen Produkt gelöst werden, aber vom frei verfügbaren Produkt nicht. Ein kommerzielles Produkt, das nur Nice-To-Have Eigenschaften liefert, aber nichts Essenzielles, hat enorme Schwierigkeiten am Markt seinen Preis zu rechtfertigen. Aber siehe das Apple-Korollar: Design und Usability sind essenzielle Eigenschaften!

Es ist auch spannend, weil ein freies Produkt den Markt so dominieren kann, daß es nicht mehr ausreichend ist, die Eigenschaften des freien Produktes mit dem eigenen Produkt nachzubauen. Stattdessen muss plötzlich Kompatibilität hergestellt werden. Ein Beispiel hierfür ist Linux - sowohl AIX als auch Solaris haben Umgebungen, in denen sie Linux-API und Linux-Dateisystemlayout simulieren, damit Linux-Anwendungen auch in deren Umgebungen ausführbar werden.

Ein weiteres Beispiel hierfür ist das Perl, das in Solaris mitgeliefert wird, und das unbrauchbar ist, weil es mit dem Sun-Compiler gebaut worden ist, der zum GCC subtil inkompatibel ist. Aus verschiedenen Gründen gibt es eine ganze Menge Leute, die unter Solaris mit dem GCC arbeiten oder arbeiten müssen, und die daher ihr Perl erst einmal neu bauen müssen, damit sie mit dem GCC gebaute Perl-XS Erweiterungen stabil zum Laufen bekommen können.

Allgemeiner gesagt legt das frei verfügbare Produkt eine Markteintrittsschranke fest, weil das freie Produkt definiert, was sowieso schon jeder weiß (Wikipedia) oder kann (Open-Source-Software), sodass das betreffende Wissen oder die betreffende Funktion verschenkt wird.

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