Fertig gelesen: Alastair Reynolds

In Unendlichkeit (Revelation Space) treffen wir auf ein Universum, in dem die Menschen über eine Menge beeindruckender Technik gebieten - kilometerlange Raumschiffe, Smart Materials und Nanotechnik, AIs und cybernetische Bewußtseinsaufrüstung und was es an Spielzeug direkt aus einem GURPS Transhuman Sourcebook mehr gibt.
Unendlichkeit (Revelation Space)
Dennoch unterliegt die Menschheit noch immer den Fesseln von Lichtgeschwindigkeit, Massenträgheit und Energieerhaltung und das macht das Universum in Unendlichkeit zu einem Platz von überwaltigender Einsamkeit. Reisen zwischen den Sternen sind Projekte von Jahrzehnten oder Jahrhunderten Realzeit und Jahren oder Jahrzehnten Schiffszeit, und so hat sich die Menschheit über den Weltraum zwar ausgebreitet, ihn aber keineswegs erobert. Und Reynolds macht deutlich, daß es in einem solchen Universum vor allen Dingen die Willenskraft und Sturheit des Menschen und nicht sein technisches Spielzeug ist, daß ihn die gewaltige Leere überwinden läßt.
In Unendlichkeit geht es um zunächst einmal um Dan Sylveste, der auf der Forschungskolonie Resurgam das Schicksal einer vor mehr als einer Million Jahren ausgestorbenen Alienrasse zu erforschen und dabei in die politischen Wirren der Kolonie gerät. Um seine Hypothesen zu prüfen braucht er Zugriff auf ein interstellares Schiff, und da kommt ihm die in seinem System eintreffende “Sehnsucht nach Unendlichkeit” gerade recht. Doch das Schiff ist genau wie sein Kapitän krank - die Schmelzseuche, eine eigenartige Nanovirenkrankheit schweißt Smart Materials des Schiffes und die mit Nanotechnologie aufgerüsteten Organe des Kapitäns zu einer bizarren Einheit zusammen. Außerdem hat die “Sehnsucht nach Unendlichkeit” irgendwann vor dem Eintreffen im Resurgam-System eine Reihe von vierzig eigenartigen Artefakten unklarer Herkunft von einem Asteroiden geborgen, bei denen es sich wahrscheinlich um Waffen handelt.
Die Menschen in Unendlichkeit sind die Mitglieder einer über Lichtjahre verstreuten und durch Raum und Zeit getrennten Menschheit - sie sind einander fremd und können die Distanzen, die nicht nur räumlich, sondern auch menschlich zwischen ihnen liegen, nicht mehr wirklich überwinden. Reynolds versteht es, diese Entfremdung auch dem Leser nahezubringen: Er führt seine Charactere als teilweise kaum noch menschenähnliche Symbionten aus organischen und mechanischen Teilen ein, und zeichnet sie dann gleichzeitig als Figuren mit menschlichen Gefühlen und Zielen und einer Psyche, die manchmal fremdartiger als die eines Aliens ist.
In Chasm City (Chasm City) kehrt Reynolds in das Universum aus Unendlichkeit zurück. Der von Unendlichkeit vollkommen unabhängige Roman spielt zeitlich vor diesem und beleuchtet das Geschehen auf Yellowstone, dem Herkunftssystem der Resurgam-Expedition. Tanner Mirabel, ein Killer, verfolgt sein Opfer von Sky’s Edge nach Chasm City auf Yellowstone. Die Infektion mit dem Propagandavirus der Sky Hausmann-Sekte legt dabei bei ihm jedoch schrittweise unterdrückte Erinnerungen frei und er muß in bester Philip K. Dick-Manier erkennen, daß Tanner Mirabel niemals wirklich existiert hat.
Chasm City führt den Leser weiter in das noir-Universum ein, das wir in Unendlichkeit bereits kennengelernt haben - was es mit der Schmelzseuche auf sich hat, welche weiteren Fraktionen der Menschheit aus welchen Motiven heraus handeln und welche Mittel ihnen zur Verfügung stehen und am Ende lernen wir sogar, daß nicht alle weltraumfahrenden Alienzivilisationen immer zeitgleich mit der Entdeckung der interstellaren Raumfahrt ausgestorben sind.
Während Unendlichkeit Anleihen bei der Space Opera und dem Horror macht, ist Chasm City eher ein Detektivroman mit Anleihen beim Film Noir und dem Cyberpunk, aber vor dem gleichen großartigen und düsteren Hintergrund wie Reynolds erster Roman.
Die Arche (Redemption Ark) führt die beiden unverbundenen Handlungsstränge aus Unendlichkeit und Chasm City zusammen: Die Wölfe, die Dan Sylveste vor fünfzig Jahren in Unendlichkeit geweckt hat, treffen vor Resurgam ein und die verschiedenen Fraktionen der Menschheit, die von ihrer Existenz überhaupt wissen, geraten über unterschiedlichen Strategien des Vorgehens gegen diese Bedrohung in Streit.
In diesem Buch lernen wir mehr über die Synthetiker, bisher die mysteriöseste und fremdeste Gruppe der Menschen in Reynolds Noir-Universum - eine Gruppe von Menschen, die borg-gleich mit Maschinenunterstützung einen Hive-Mind erschafft und an der Grenze zur Entkörperlichung operiert. Es ist diese Gruppe, die Ursprung der am weitesten fortgeschrittenen Technik im Universum von Reynolds ist, und sie befaßt sich intern mit noch fremdartigeren Dingen. Reynolds legt außerdem mehr über den Ursprung und die Ziele der Wölfe offen und es wird deutlich, daß die Menschen so wie bisher nicht mehr dort existieren können, wo die Wölfe aus die aufmerksam geworden sind.
Der vierte und letzte Teil der Geschichte um die Wölfe, Absolution Gap , ist noch nicht in deutscher Sprache erschienen. Der Klappentext verspricht “[In fighting the inhibitors, ] a dreadful choice awaits: whether or not to bargain with powers that may be the answer to the Inhibitors–but may be something worse.”
Es ist ein offenes Geheimnis, daß ich gute Romane gegenüber Rollenspiel-Sourcebooks bevorzuge, weil sie die für das Spiel wesentliche Information besser und schneller herüber bringen und obendrein billiger und unterhaltsamer sind. Diese vier Bücher präsentieren ein geschlossenes Far Future-Szenario, daß geradezu danach schreit, mit BESM (meine Wahl) oder Gurps Transhuman-Regeln bespielt zu werden. Dem Erzähler stehen genug Schauplätze und Hintergrundinformationen zur Verfügung, um wahlweise Städteabenteuer und Cyberpunk-Geschichten in Chasm City auf Yellowstone, Outdoor- oder Militärmissionen auf Sky’s Edge oder “Widerstand gegen die Bürokratur”-Geschichten auf Resurgam zu bevölkern, oder seine Mitspieler auf Sense-Of-Wonder-Expeditionen im tiefen Raum mitzunehmen.
Jede Menge fremdartige und aufgerüstete Fraktionen der Menschheit stehen zur Verfügung, um auch auf “crunchy bits” versessene Spieler gefahrlos BESM “40-Punkte Figuren” bauen zu lassen - es ist sowieso egal, denn in Reynolds Noir-Universum hat jede Fraktion einen Gegenspieler und jede Technik einen Gegenmechanismus (und wenn nicht, kann man leicht plausibel einen erfinden).
Der von Reynolds gemalte Hintergrund ist groß genug, um leicht jede andere Geschichte stattfinden zu lassen oder sie mit dem Handlungsbogen der vier Bücher, der sich über mehr als einhundert Jahre erstreckt zu verweben. Zugleich ist zwischen Reynolds Pinselstrichen ausreichend Platz, um eigene Geschichten, Welten oder Fraktionen einführen zu können und Raum zum Spielen zu haben.
Jetzt brauche ich nur noch Leute, die Lust haben, eine solche Kampagne zu spielen und die die Bücher noch nicht gelesen haben… :)